Well, the neighborhood bully, he’s just one man
His enemies say he’s on their land
They got him outnumbered about a million to one
He got no place to escape to, no place to run
He’s the neighborhood bully.
(Bob Dylan)1
Es ist Krieg in Europa. Dies tangiert auch das Kasseler Friedensforum und dessen alljährliche Traditionspflege, den Ostermarsch. Schließlich hat man sich dort als Alleinstellungsmerkmal den Frieden auf die Fahnen geschrieben. Will man nicht vollständig irrelevant werden und jede Glaubwürdigkeit verlieren, muss also in irgendeiner Art und Weise Stellung bezogen werden. Andererseits entspricht der Krieg nicht dem liebgewordenen Weltbild: Als Angriff der USA, der NATO oder Israels lässt er sich beim besten Willen nicht darstellen. Die Zuneigung zum russischen Imperium ließ sich zur Blütezeit des Friedensforums in den ausgehenden Jahren des kalten Krieges ja noch einigermaßen in ein linkes Weltbild integrieren, handelte es sich bei der Sowjetunion doch, zumindest dem Namen nach, um so etwas wie einen sozialistischen Staat. Wie jedoch sollte die Rückkehr Russlands zur alten Form als Hort der Reaktion auf dem eurasischen Kontinent denklogisch ins Weltbild des Friedensforums integriert werden? Schließlich dürfte sich ein Großteil der Mitglieder von Vorstand und Fußvolk des Friedensforums immer noch für links oder linksliberal halten. Der diesbezügliche Habitus wird teilweise bis hin zur karikaturhaften Übertreibung gepflegt. Man sollte meinen, dass man sich in solchen Kreisen nicht wirklich auf derselben Barrikade mit Höcke, Orban und Bolsonaro wiederfinden will. Aber linksdeutsche Friedensmarschiererei ist nicht von Logik, sondern vom Ressentiment geprägt. Im Gegenteil: Fast hat man den Eindruck, die Protagonisten des Friedensforums seien erleichtert, keine Konzessionen an ein progressives Weltbild mehr machen zu müssen und die schon immer vorhandenen antimodernen und kulturpessimistischen Reflexe nun endlich offen ausleben zu können. Nichtsdestoweniger: Als Reaktion auf den ersten eindeutig zwischenstaatlichen Krieg in Europa seit 1945 – die verschiedenen ex- und restjugoslawischen Kriege haben sich aus Bürgerkriegen angesichts des Zerfalls Jugoslawiens entwickelt – musste das Friedensforum seinen ursprünglichen Aufruf zum Ostermarsch einstampfen. Dort war, in der nach Art eines Skobelew, von Bulgarien und Rumänien als „Meeres- und Landesgrenze“ Russlands fabuliert worden.2 Auch die alte Zeitungsente vom angeblich in den 2+4 Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung durch die NATO „zugesagten“ Verzicht auf Osterweiterung (wie denn, wenn die NATO gar nicht an den Verhandlungen teilnahm und Russland, Georgien, die Ukraine und die baltischen Länder als unabhängige Staaten noch gar nicht existierten?) durfte als Klassiker der Putin – Apologetik nicht fehlen.3
In der nach Kriegsausbruch eilig korrigierten Fassung verurteilt das Friedensforum nunmehr „den Überfall der russischen Regierung auf das Schärfste.“4 Bis zum Begriff eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges kann sich das Friedensforum dann doch nicht durchringen. Im nächsten Satz ist dann bereits wieder von „verheerenden Fehlern auf beiden Seiten“ im Vorfeld die Rede. Aber dies rechtfertige keinen militärischen „Einmarsch“. Das verrät vielleicht so was wie das Wunschdenken, die Invasion in der Ukraine möge auf ähnlich wenig Widerstand treffen wie beim Einmarsch der Sowjettruppen anno 68 in die damalige CSSR. Dann hätte man die heroisch Untergegangenen guten Gewissens loben können, ohne dazu gezwungen zu sein, Farbe zu bekennen, oder praktische Schlussfolgerungen zu ziehen. Näherliegend ist jedoch, dass man sich drückt, im Zusammenhang von Russlands Handeln das böse K-Word zu schreiben. Die Verwendung irreführender Begriffe für eine nach Plan laufende Sonderoperation ist ja nunmehr in Russland verboten! Nicht, dass man noch beim nächsten Friedenskongress in St. Petersburg aus dem Hotel England heraus verhaftet wird!
Ansonsten gilt: Im Osten nichts Neues. Krieg ist keine Lösung, aber nun, wo es um eine mögliche Reaktion des Westens geht, ist das K-Word plötzlich wieder da. Und noch mehr: Willy würde Whiskas kaufen5, gemeinsames Haus von Wladiwostok bis Lissabon, Aufrüstung ist böse und kostet viel Geld, das dann bei der Bekämpfung des Klimawandels fehlen würde. Freilich könnte alles Geld der Welt nicht die Frage beantworten, wie man denn als Lobby von Öl- und Gasrentenregimes den CO2-Ausstoss senken will.
Stattdessen fiel dem Friedensforum offensichtlich nichts Besseres ein, als in der langen Liste vergangener Blamagen nach einem besonders eklatanten Beispiel zu suchen, um dieses dann zu wiederholen. Wie einst den durch einen anderen Zaren wiedereingesetzten Bourbonen nachgesagt wurde: Sie haben nichts gelernt und nichts vergessen. Fündig wurden die Veranstalter ausgerechnet im Jahre 2009. Der damalige Ostermarsch stellt allerdings selbst nach den Maßstäben des Friedensforums einen Tiefpunkt dar: Nicht nur hielt der notorische IM Dieter, alias Diether Dehm, zu diesem Anlass eine Rede, die in der Behauptung gipfelte, es könne kein Antisemit sein, wer nicht massenhaft Juden umgebracht habe.6 Nein, auch der Hauptredner Rolf Becker, den IM Dieter vom Vorwurf des Antisemitismus freisprechen wollte, verstieg sich zu der Behauptung, die von der Friedensbewegung erhobene Forderung nach Abrüstung der sich 2009 im Krieg befindlichen Kontrahenten Israel und Hamas solle für die Hamas nicht gelten. Davor hatte der Schauspieler und GEW-Mann Becker ein Gedicht von Pablo Neruda verlesen, das dieser anlässlich des spanischen Bürgerkrieges verfasst hatte, und in dem Neruda zu Recht Franco und dessen Verbündete, Hitler und Mussolini, Bombenterror und Kindermord vorwarf, und kurzerhand auf Israel umgemünzt.7 Zwischen den u.a. sich auch auf islamische Söldner stützenden Faschisten in Spanien einerseits und Israel, dass sich gegen islamistische und palästinensische Mörderbanden erwehren muss andererseits, besteht für Becker somit kein Unterschied. Dem jüdischen Staat wurde also nicht nur Vergießen von Kinderblut vorgeworfen – zu Ostern schon immer ein beliebter antijüdischer Topos – sondern auch der Vergleich von Israel und den Faschisten durfte nicht fehlen. Eben dieser Rolf Becker soll nunmehr wieder auf dem Ostermarsch sprechen. Es gehört nicht viel Fantasie dazu zu vermuten, an wen Becker keine Waffen geliefert sehen will. Auch im runderneuerten Aufruf ist zu lesen: „Es ist auch falsch, nun doch Waffenexporte in die Ukraine zu genehmigen.“ Was das angesichts eines Feindes bedeutet, der folgendes formuliert: „Russen und Ukrainer [sind] ein Volk, ein geeintes Ganzes. […] Die Mauer, die in den letzten Jahren zwischen Russland und der Ukraine – die dem Wesen nach Teile ein und desselben historischen und geistigen Raumes sind – entstanden ist, sehe ich als großes Unglück für alle, als Tragödie.“8
Der Auftritt eines nahezu 90jährigen Veteranen des kalten Krieges auf dem anachronistischen Ostermarsch wäre an und für sich nicht der Rede wert. Es gibt relevantere gesellschaftliche Kräfte, die in das gleiche Horn blasen, sich im Chamberlain-Ähnlichkeitswettbewerb um den ersten Platz balgen und alles dafür geben, dass den Ukrainern im Überlebenskampf gegen die russischen Angriffskrieger die Waffen ausgehen.9 Die größte Stütze des Putinismus in Deutschland sind ja nicht die Friedensbewegung, die AfD, die fast gleichlautende Forderungen formulieren oder unverbesserliche Nationalbolschewisten in der Linkspartei, die sogar innerhalb der eigenen Partei marginalisiert sind, sondern bedeutende Kapitalfraktionen, wie in Kassel beispielsweise die Wintershall-Dea und deren Lobbyisten, vor allem unter Sozialdemokraten aber auch unter Christdemokraten, die auf allen politischen Ebenen vom Bundespräsidenten bis hin zu den örtlichen Vertretern aus Kassel im Bundestag vertreten sind.10
Besorgniserregend ist also weniger, dass der Friedensratschlag tut, was er dem Grunde nach schon seit seiner Gründung tut: Ein antimodernes, antiamerikanisches und antiwestliches Ressentiment, gepaart mit Sympathie für Diktatoren und Gewaltherrscher zu verbreiten, sondern dass Deutschland diese Politik, trotz anderslautender Rhetorik und freilich abgeschwächt der Tendenz nach verfolgt. Dazu passt es dann, dass eine respektable Organisation wie der DGB dazu aufruft, an den Ostermärschen teilzunehmen.11
Mit SPD-Urgestein Michael Müller haben die Ostermarschierer einen weiteren Hauptredner und Lautsprecher eben jener Politik gewinnen können, die Putin den Weg bereitet hat. Auf einer ganzen Seite durfte er in der HNA vom 11.04.2022 die Floskeln von „Wandel durch Annäherung“ oder „Konzepte für Frieden und Entspannung“ zum Besten geben. Müller ist auch Vorsitzender des SPD-nahen Wandervereins der Naturfreunde und Mitherausgeber des Online-Magazins Klimareporter. Unter diesen Voraussetzungen dürfte man wohl erwarten, dass die Bekämpfung des Klimawandels sein hauptsächliches Anliegen ist. Aber nein, die „größte Gefahr für die Welt“ sei ein „doppelter kalter Krieg“ gegen Russland und China. Hinter dieser größten Gefahr stehe natürlich die „US-Außenpolitik“.12 Müller spielt in der Bundespolitik und auch in der SPD keine große Rolle mehr. Seine Brüder und Schwestern im Geiste sind aber jene, die dafür sorgen, dass sich mit Deutschland einer der größten Rüstungsexporteure auf das falsche Spiel mit den Waffenlieferungen versteht und jene verrät, die sich dem großrussischen Chauvinismus in den Weg stellen.13 Hier schließt sich dann der Kreis von Steinmeier, Schröder und Konsorten und Ihren Wiedergängern in den Niederungen der nordhessischen Provinz zu den redenden Untoten der Ostermarschierer.
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1 Bob Dylans programmatisches Lied sei hier angeführt, weil es doch tatsächlich mit der Band „Dylans Dream“ eine Combo in Kassel gibt, die meint mit diesem großen Namen hausieren gehen zu müssen und die regelmäßig für die Friedensmarschierer auftritt. Im Liedtext heißt es weiter: „Well, he’s surrounded by pacifists who all want peace // They pray for it nightly that the bloodshed must cease //
Now, they wouldn’t hurt a fly. To hurt one they would weep // They lay and they wait for this bully to fall asleep // He’s the neighborhood bully. // Every empire that’s enslaved him is gone // Egypt and Rome, even the great Babylon // He’s made a garden of paradise in the desert sand // In bed with nobody, under no one’s command // He’s the neighborhood bully.“ Vgl.: Bob Dylan’s forgotten pro-Israel song, revisited. With Bob on our Side, The Times of Israel, 24.05.2016.
2 Dass die kometenhafte Karriere eines Skobelew schon im für einen zaristischen General jugendlichen Alter von 38 Jahren buchstäblich verpuffte, daran ist bestimmt auch der böse Westen schuld. Schließlich nannte sich das diesbezügliche Etablissement Hotel England. Wo die Meeres- und Landesgrenze Russlands von Rumänien oder Bulgarien berührt wird, bleibt das Geheimnis der Friedensforscher. Vielleicht sehen sie ähnlich wie Putin die Ukraine dem Grunde nach Russland zugehörig. Dass nicht die NATO aufgerückt ist, sondern die genannten Staaten gute Gründe hatten der NATO beizutreten, erklärt Rainer Trampert in, ders.: Das Tauziehen um die Ukraine und der Bruch mit Russland. Von einem riesigem Militäraufgebot der NATO konnte im Baltikum, in Rumänien oder in Bulgarien bis zum Zeitpunkt des russischen Aufmarsches an der Grenze zur Ukraine ebenfalls nicht die Rede sei.
3 Die erste Version des Aufrufs lautete: Gemeinsame Sicherheit statt Konfrontation.
4 Nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges lautete der Aufruf nunmehr: Stoppt den Krieg! FRIEDEN für ganz Europa! Nein zur Aufrüstung!
5 Zur bizarren posthumen Umdeutung des unter Mitwirkung der Stasi gestürzten Willy Brandt, während dessen Ägide als Bundeskanzler der Wehretat 3,5% statt der vom Friedensforum als „Aufrüstung“ geschmähten 2% betrug, zitieren wir hier mal ausnahmsweise einen Sozialdemokraten. Fritz Felgentreu erläutert in einem Streitgespräch folgendes: „Partei Willy Brandts ist ein wunderbares Stichwort. Eine Voraussetzung für die Ostpolitik Anfang der 70er-Jahre, also genau in der Kanzlerschaft Willy Brandts, war eine Position der Stärke. Mit dieser Voraussetzung ging man nicht nur auf die Sowjetunion, sondern auch auf Länder wie Polen und die DDR zu. In der Regierungszeit von Willy Brandt von 1970 bis 1974 stieg unter den Verteidigungsministern Helmut Schmidt und Georg Leber der Anteil am Bruttosozialprodukt, der für Rüstung beziehungsweise Verteidigung ausgegeben wurde, von 3,1 auf 3,6 Prozent. Von diesen Zahlen sind wir heute zum Glück weit entfernt und da will keiner wieder hin. Doch es zeigt eben auch, dass Willy Brandt vollkommen klar war, dass man mit Russland am besten aus einer Position der Stärke heraus verhandelt, und das war erfolgreich.“ In: SPD Berlin, 18.05.2020.
6 Hier das Originalzitat: „Der Antisemitismus wurde das, was er wirklich ist: Eine massenmordende Bestie. Und deswegen dürfen wir nicht zulassen, dass man den Begriff des Antisemitismus für Alles und Jeden inflationiert. Antisemitismus, das ist Massenmord! Und es gibt überhaupt keinen Anlass, wenn mein Kollege und Freund Rolf Becker hier spricht, wenn von irgendeiner Seite dazwischengepöbelt wird Antisemitismus. Antisemitismus ist Massenmord und muss dem Massenmord vorbehalten bleiben! sowie eine Videoaufnahme der Rede.“
8 Vladimir Putin, Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer, in: Osteuropa, 71, Jg., 7/2001.
9 Vgl., Ukraine-Krieg: Deutschlands falsches Spiel mit den Waffenlieferungen Von Robin Alexander, Klaus Geiger, Gerhard Hegmann, in: Die Welt, 02.04.2022.
10 Jens Høvsgaard: „Deutschland hat Wladimir Putin den Weg geebnet.“ aus: „Deutschland verhielt sich wie ein Ehebrecher und ging mit Putin fremd“, Høvsgaard im Interview mit Klaus Geiger, in: Die Welt, 10.04.2022.
11 „Stoppt den Krieg! Frieden und Solidarität für die Menschen in der Ukraine! Aufruf des DGB zu den Ostermärschen 2022“, so auf der Internetseite des DGB. Auch dort heißt es: „Jetzt muss es zunächst heißen: ‚Die Waffen nieder!‘ Es braucht einen sofortigen Waffenstillstand mit anschließenden Verhandlungen, um das Sterben und das Leid zu beenden.“
12 „Olaf Scholz liegt falsch“. Montagsinterview. SPD-Politiker Michael Müller über Ostermarsch und Ukraine-Krieg, in: HNA, 11.04.2022.
13 „Der Appell: Demokratie und Sozialstaat bewahren – Keine Hochrüstung ins Grundgesetz“ kritisiert verdruckst auch „eine Wende in der Außenpolitik“, und geht des lieben Friedens willens der Frage aus dem Weg, „was den Menschen in der Ukraine derzeit helfen würde“ (Lars Quadfasel). Der Appell wurde auch von zahlreichen Abgeordneten der SPD unterzeichnet. Der Aufruf ist Ausdruck einer diffusen Bewegung, die auch in Kassel mehrfach auf die Straße ging und die den „Angriffsopfern übel nimmt, dass sie sich verteidigen“ (Sascha Lobo).