Antizionismus, Antisemitismus und der Schatten des Nationalsozialismus auf der documenta 15

Am 7. Januar 2022 deckten wir vom Bündnis gegen Antisemitismus Kassel auf, dass für die documenta 15 mit dem Künstlerkollektiv „The Question of Funding“ eine palästinensische Gruppe von Künstlern kuratiert wurden, die eng mit dem Khalil Sakakini Cultural Center (KSCC) aus Ramallah verbunden sind. Der Namensgeber des KSCC, Khalil al-Sakakini war überzeugter Antizionist, äußerte sich verschiedentlich antisemitisch und lobend über Hitler.1

Auf unserer Tagung „Antisemitismus im Nah-Ost-Konflikt und in der Kunst der postbürgerlichen Gesellschaft“ am 16. Juli 2022 in Kassel hatten wir Ralf Balke geladen, über das Thema Antisemitismus und den Einfluss der NS-Ideologie in der palästinensischen Nationalbewegung zu referieren.

Wir veröffentlichen hier den Mitschnitt2 der Einführung zur Tagung und den Vortrag Ralf Balkes.

Jonas Dörge: Einleitung. Unser Auftrag ist es, Kassel in Schutt und Asche zu legen

Ralf Balke: Die Entstehung von Feindbildern: Antisemitismus in der palästinensischen Nationalbewegung

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1 vgl. hierzu im wesentlichen: Tom Segev, Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels, München 2005.

2 Wir bedanken uns an dieser Stelle beim Freien Radio Kassel und ganz besonders beim Radio T (Chemnitz), dessen Mitarbeiter M.S. die Aufnahme bearbeitete.

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8. Mai 1945 Zerschlagung des deutschen Nationalsozialismus

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Der 8. und 9. Mai sind die Tage der Kapitulation der Deutschen Truppen im 2. Weltkrieg. An diesen beiden Tagen wurde ein in der Geschichte einmaliger Raub- und Vernichtungskrieg beendet, der mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Tschechoslowakei am 15. März 1939 begann und seinen Höhepunkt im Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion fand. Ein Feldzug, der das Ziel hatte, Osteuropa bis zum Ural der direkten deutschen Herrschaft zu unterwerfen und Westeuropa unter deutscher Vorherrschaft zu einen. Die in Osteuropa ansässige Bevölkerung sollte dezimiert und vertrieben werden, der verbliebene Rest als Arbeitssklaven sowohl der deutschen Industrie als auch der Landwirtschaft zugeführt werden. Osteuropäische Industriebetriebe und riesige Agrarflächen sollten deutschen Besitzern übereignet werden. Zentrales Moment der nationalsozialistischen Politik und Kriegsziel war die Auslöschung der europäischen Juden. Diese wahnsinnigen und pathologischen Ziele prägten das Handeln der deutschen Kriegsmaschinerie. Die eroberten Gebiete wurden systematisch ausgeplündert, deutsche Soldaten brachten aus aller Herren Länder Beutegut mit nach Hause, Zwangsarbeiter, landwirtschaftliche Produkte und Industrieprodukte wurden nach Deutschland transportiert, um dort die Produktion und den Konsum aufrecht zu erhalten. Der millionenfache Hungertod in den besetzten und belagerten Großstädten der Sowjetunion, Terror und Massenmord waren bewusste Bestandteile der deutschen Eroberungspolitik in allen besetzten Ländern Europas, Hunger der Bevölkerung die Folge der Ausplünderung dieser Länder. Der Eroberungszug der Wehrmacht, das tadellose Funktionieren der Reichsbahn und der deutschen Bürokratie, das Zuschauen und Mittun der deutschen Bevölkerung machte die systematische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in ganz Europa erst möglich. Den deutschen Wehrmachteinheiten folgten Polizei und SS-Einheiten, die in regelrechten Menschenjagden bis in die letzten Winkel Europas Juden zusammen trieben, um sie in den Osten zu deportierten und dort – oft in direkter Zusammen-arbeit mit der Wehrmacht – in Massenerschießungen zu ermorden. Eigens zum Zweck ihrer industriellen Tötung wurden die Vernichtungslager Auschwitz, Treblinka, Belzec, Sobibor und Majdanek in Ostpolen errichtet. In Auschwitz wurden auch viele Sinti und Roma und politische Gefangene aus ganz Europa umgebracht.

Von Hitler geführt, von breiten Bevölkerungsteilen unterstützt und von führenden Industriellen finanziert gelang es der NSDAP 1933 mit Unterstützung rechtsgerichteter Parteien im Reichstag eine Mehrheit hinter sich zu vereinen. Reichspräsident Hindenburg ernannte Hitler zum Reichskanzler. Mit dem gegen die Stimmen der SPD (die kommunistischen Abgeordneten waren schon vorher verhaftet worden oder untergetaucht) durchgesetzten Ermächtigungsgesetz und durch offenen Straßenterror unterdrückte die nationalsozialistische Regierung sehr schnell jegliche Opposition. Diese blieb deshalb vereinzelt und isoliert. Die Kommunisten setzten dem NS-Regime anfangs organisierten Widerstand entgegen, aber auch sozialdemokratisch, christlich und humanistisch orientierte Menschen und Gruppen leisteten tapferen Widerstand. Massenhafte Denunziation, brutaler Terror und effektive Polizeiarbeit zerschlugen schnell jeden Widerstand. In den in ganz Deutschland errichteten Konzentrationslagern schmachteten Tausende politische Gegner und viele andere Missliebige wurden gefoltert und umgebracht. Ausgrenzung, Verfolgung, Terror und Mord gegen Juden, Behinderte, Andersdenkende und gesellschaftliche Außenseiter waren Programm der Politik des Nationalsozialismus, bevor dann die systematische Ermordung der Juden nach der Wannseekonferenz in Berlin 1942 begann. „Ruhe und Ordnung“, Antisemitismus, die Ideologie der Volksgemeinschaft, die Formulierung weitgesteckter Eroberungsabsichten und der bis 1941 erfolgreiche Eroberungsfeldzug trugen dazu bei, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung sich hinter das nationalsozialistische Regime und seine Politik stellte und der Widerstand in Deutschland isoliert blieb.

Das nationalsozialistische Regime musste von Außen zerschlagen werden. Bewaffneter Widerstand organisierte sich in fast allen besetzten Nationen, allen voran in Jugoslawien und Polen, in den besetzten sowjetischen Gebieten, Griechenland, Frankreich, der Tschechoslowakei und in Norwegen. In Dänemark widersetzte sich die Bevölkerung dem antisemitischen Mordprogramm, die Holländer versuchten mit einem Generalstreik, die Deportation der Juden zu unterbinden und es gab kleine bewaffnete Kommandoaktionen gegen die Besatzer, in Belgien gab es zahlreiche Sabotageakte gegen die Deportation der Juden und andere Untergrundaktionen. Viele Juden beteiligten sich, als Soldaten in allen alliierten Armeen und als Partisanen aktiv an den gefährlichen Kämpfen gegen die faschistischen Besatzer. Viele emigrierte deutsche Juden kehrten kämpfend als Soldaten der alliierten Truppen nach Deutschland zurück.

Die Hauptlast des Krieges zur Zerschlagung des deutschen Nationalsozialismus und Befreiung Europas trug die Rote Armee. Die bis nach Moskau, Stalingrad und Leningrad vorgedrungenen deutschen Eroberer wurden von der Roten Armee unter größten Opfern aus der Sowjetunion, dann auch aus den anderen osteuropäischen Staaten vertrieben. Die sowjetischen Truppen erfuhren militärische Unterstützung zunächst durch die alliierten Luftangriffe auf Deutschland und durch umfangreiche Materiallieferungen vor allem aus den USA. Im Sommer 1944 landeten alliierte Truppen in Frankreich und vertrieben die deutschen Besatzer aus Frankreich und aus den Beneluxstaaten. Nach der schon 1943 erfolgten Landung amerikanischer und britischer Truppen in Sizilien entledigte sich das italienische Volk selbst der faschistischen Mussolini-Diktatur. Viele Italiener reihten sich ein in den antifaschistischen Kampf gegen die brutal vorgehenden deutschen Besatzungstruppen. Vergleichbare Aktionen gab es in Deutschland nicht. In Deutschland stellte sich das Volk teils in apathischer Ergebenheit teils in fanatischer Hingabe bis zuletzt hinter das nationalsozialistische Regime. Die alliierten Truppen mussten in oft äußerst erbitterten Kämpfen fast das ganze Reichsgebiet besetzen, bis organisierter Kampf faktisch nicht mehr möglich war.

Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als ein besiegter Feindstaat. (Direktive des Joint Chiefs of Staff 1067)

Es waren die alliierten Truppen, die dem systematischen Judenmord ein Ende setzten.

Es waren die alliierten Truppen, die das bis in die letzten Tage anhaltende Morden in den Vernichtungslagern, Konzentrationslagern, in den Gestapogefängnissen und in den Zuchthäusern beendeten.

Es waren die alliierten Truppen, die die wenigen überlebenden Juden, Millionen von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen und einige Tausend deutsche Nazigegner aus den Kerkern und Lagern befreiten.

Es waren die alliierten Truppen, die die nationalsozialistischen Politiker in Stadt und Provinz aus ihren Ämtern vertrieben, einige auch einkerkerten und dem Galgen überantworteten.

Es waren die alliierten Truppen, die den überwinternden und emigrierten Demokraten nach und nach den demokratischen Neuanfang in Deutschland ermöglichten.

(Der Text ist eine mehrfach überarbeitete Version eines zuerst 2005 erschienenen Flugblatts.)

4. April 1945: US-Truppen beenden die Naziherrschaft in Kassel

Am 4. April 1945 marschierten US-Truppen in Kassel ein und beendeten die Naziherrschaft in dieser Stadt und setzten der deutschen Volksgemeinschaft ein Ende.

Die Truppen der Alliierten stießen bis in die letzten Tage auf Widerstand deutscher Einheiten, auch im Raum um Kassel. Bis in die letzten Tage produzierten Kasseler Rüstungskonzerne Panzer, die gegen die vorrückenden Alliierten eingesetzt wurden. Das lag daran, dass dem Nazi-Regime von der deutschen Bevölkerung kein entscheidender Widerstand entgegengesetzt wurde und dass dieses Regime bis in die letzten Wochen hinein, von einem großen Teil der deutschen Bevölkerung getragen wurde. So war es auch möglich, dass in den letzten Tagen der Naziherrschaft sowohl im Kasseler Gefängnis Wehlheiden politische Gegner und Zwangsarbeiter in Wilhelmshöhe ermordet wurden. (Hierzu im Überblick: Orte_der_Erinnerung)

Die Kasseler Geschichte ist dabei für Deutschland typisch. Kurz vor Kriegsbeginn – vom 3.- 5. Juni 1939 – kommt es in Kassel zu einem Massenspektakel. Über 200.000 ehemalige Soldaten und Angehörige der Deutschen Wehrmacht kommen, um das militärische Spektakel des „Großdeutschen Reichskriegertags 1939“ zu erleben.

In Kassel gab es eine Tradition des Nationalismus, Militarismus, Autoritarismus und des Revanchismus. Rechte Parteien, wie die DNVP und die DVP, Krieger- und Vaterländische Vereine und der Stahlhelm beherrschten das politische Klima mit Massenaufmärschen, Gedenktagen und Versammlungen. Die NSDAP griff das Gedankengut dieser Gruppierungen in verschärfter und zugespitzter Form auf und fand daher auch in Kassel schnell eine breite Zustimmung. In einigen Stadtteilen erhielt sie weit über 50 % der abgegebenen Stimmen. 1932 wurde die NSDAP mit knapp unter 50% der Wählerstimmen dann die stärkste Partei in Kassel.

Kassel war die Stadt Roland Freislers. Freisler war ein hoher Funktionär im NS-Staat, an der Wannseekonferenz beteiligt und dann berüchtigter Präsident des Volksgerichtshofes. Er war verantwortlich für etliche Todesurteile (z.B. gegen die Mitglieder der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“). Freislers Karriere begann in Kassel als gewählter Stadtverordneter.

In Nordhessen war Antisemitismus en vogue. Bei den Reichstagswahlen 1907 und 1912 setzte sich der Kasseler Kandidat der „Wirtschaftspartei“, ein bekennender Antisemit, durch. Die Hälfte der 1907 und 1911 in den deutschen Reichstag gewählten Vertreter der Antisemiten, kam aus dem Kasseler Regierungsbezirk. Schon seit Mitte der zwanziger Jahre kam es in Kassel immer wieder zu antisemitischen Übergriffen gegen Juden. Der offene Terror gegen die Kasseler Juden begann mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus 1933. Der erste Höhepunkt der Verfolgung fand mit dem Pogrom am 07. November 1938 in Kassel statt, zwei Tage vor der reichsweiten Reichspogromnacht. 1941 setzte die Deportation der Kassler Juden nach den Osten ein, wo sie umgehend ermordet wurden. Eine organisierte Form, ihre jüdischen Nachbarn vor der Ermordung zu schützen, gab es wie in ganz Deutschland auch in Kassel nicht. Vielmehr profitierten auch in Kassel viele vom „Verschwinden“ ihrer jüdischen Nachbarn.

Kassel war eine wichtige Stadt der Rüstung. Bis in die letzten Kriegstage wurden in den Kasseler Firmen Rüstungsgüter produziert, die die Wehrmacht für den Angriffs- und Vernichtungskrieg ausrüsteten. Panzer und Lastwagen durch die Firmen Henschel, Credé & Co. und Wegmann sowie Flugzeuge, Flugzeugmotoren und Flugbomben durch die Firmen Henschel, Fieseler und Junkers. Doch nicht nur das Kapital, sondern das auch deutsche Proletariat produzierte weitgehend reibungslos in den Fabriken die erforderlichen Waffen, sofern es nicht als Vernichtungskrieger seinem Handwerk in den Reihen der Wehrmacht nachging. Verweigerung, Sabotage und Aufbegehren leisteten trotz massiven Terrors der Gestapo in erster Linie die ausländischen Zwangsarbeiter in den Kasseler Fabriken.

Kassel war Garnisonsstadt der Wehrmacht. Mehrere Wehrmachtseinheiten waren in den verschiedenen Kasernen Kassels stationiert. Sie wurden gegen Polen eingesetzt. Von dort wiederkehrend, wurden sie von mehreren Tausend Bürgern in Kassel feierlich begrüßt. Danach wurden sie in Frankreich und dann im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion eingesetzt. Die Blutspur dieser Einheiten reichte bis kurz vor Moskau, bis sie dann in Stalingrad von der Roten Armee vernichtet wurden. Nur etwa 100 Nordhessen machten den Vernichtungskrieg nicht mit, desertierten oder liefen über.

Wie überall in Deutschland leisteten einige mutige Nordhessen (Kommunisten, einzelne Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Humanisten, Christen, Anarchisten u.a.) Widerstand gegen das NS-Regime. Es wurden Flugblätter und Zeitungen verteilt, Plakate geklebt und Parolen gegen die Nazipolitik an die Wände gemalt. Die gesellschaftliche Isolierung des Widerstandes, Zerwürfnisse untereinander, aber auch ihre häufig fatalen Fehleinschätzungen des Nationalsozialismus führten dazu, dass der Widerstand schnell zerschlagen wurde und wirkungslos blieb.

Es war nicht der antifaschistische Widerstand in Deutschland der die Naziherrschaft in Europa und Deutschland beendete, sondern die Truppen der Alliierten. Es waren die Truppen der Westalliierten die demokratische und freiheitliche Verhältnisse in Kassel, in den westlichen Besatzungszonen und in Westeuropa durchsetzten. In Kassel waren es Einheiten der 80. US-Infanteriedivision.

Der Antisemit will den Tod des Juden

In Kassel drücken Nazis am 20. Juli 2019 unverblümt die Quintessenz des Antisemitismus aus. Die hier abgebildete Parole, die auf die Öfen in Auschwitz und auf die SS anspielt, geht über den strafbewehrten Tatbestand der Holocaustleugnung hinaus, es ist die Forderung nach Auschwitz. Beschlagnahmt wurde das Plakat nicht, verhaftet wurden die Propagandisten des Vernichtungsantisemitismus auch nicht. Aber auch der Protest gegen die Nazis in Kassel blieb gegenüber dem Kern der Naziideologie mehr oder weniger sprachlos.

„Ist die qualitative Besonderheit der Vernichtung des europäischen Judentums einmal erkannt, wird klar, daß Erklärungsversuche, die sich auf Kapitalismus, Rassismus, Bürokratie, sexuelle Unterdrückung oder die autoritäre Persönlichkeit stützen, viel zu allgemein bleiben.“ (Moishe Postone)

 

Jahrhundertwende – Ein experimenteller Film

Filmvorführung im Filmladen Kassel, Goethestr. 31, Kassel mit Moritz Liewerscheidt am 17. April um 17.00 Uhr

Der Filmemacher stellt sein Werk wie folgt auf seiner Internetseite vor: „Jahrhundertwende“ ist eine filmische Reflexion zum Verhältnis von Aufklärung und Romantik, Spätkapitalismus und (Neo-)Nazismus. Zugleich hinterfragt der experimentelle Film das vom TV-Dokumentarfilm gewohnte Verhältnis von Publikum und gesprochenem Kommentar. Gegenwartsbilder und Zitate historischer Texte kommentieren sich wechselseitig und lassen Raum, selbst zu denken.

Als Negativfolie und Legitimationsgrundlage für den jeweils eigenen politischen Standpunkt wird der ideologische Kern des Nationalsozialismus höchst unterschiedlich interpretiert. Ein klassischer Linker etwa wird lieber von „Faschismus“ sprechen – und diesen als autoritäre Form bürgerlicher Herrschaft in wirtschaftlichen Krisenzeiten charakterisieren, die es in erster Linie dem Kapital ermögliche, munter weiter Profit zu akkumulieren; ein Liberaler wird entgegnen, der Nationalsozialismus sei gerade nicht bürgerlich gewesen, da er das Individuum unterdrückt habe und es sich im Kern um eine Form des Kollektivismus handle, die dem Kommunismus nicht unähnlich sei – schließlich heiße es ja auch Nationalsozialismus. Ein christlicher Konservativer wird sich Letzterem anschließen, jedoch Wert darauf legen, dass der Nationalsozialismus vor allem „heidnisch“ gewesen sei und die christlichen oder abendländischen Werte zugunsten eines zynischen Nihilismus verraten habe; ein „Grüner“ wiederum wird am Nationalsozialismus gern dessen Militarismus und seine – negativ zu wertenden – Modernisierungsleistungen betonen; und schließlich wäre gar die Position eines Faschisten denkbar, der argumentieren könnte, der Nationalsozialismus habe die ursprüngliche Idee des Faschismus verraten, indem er die Nation durch seine Rassenideologie gespalten habe, während es dem italienischen Original doch um die kämpferische Einheit ihrer Mitglieder gegangen sei, zu welcher der Wille zur Einordnung ins anpackende Kollektiv und nicht die Abstammung entscheidend sei – die biologistische Rassenlehre des Nationalsozialismus dagegen bleibe dem Materialismus des 19. Jahrhunderts verhaftet, den es doch gerade zu überwinden gelte.

Die Nazis, das sind die Anderen. Parallel zur begrifflichen Inflation eines politischen Schmähwortes bis zur absoluten Beliebigkeit hat die politische Linke in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg eine Wende vollzogen, die einer Umkehrung ihrer Grundwerte gleichkommt: Während Karl Marx’ immanente Kritik des real existierenden Liberalismus noch dessen philosophischen Prämissen – dem Universalismus der Aufklärung – verpflichtet war, betreibt die postmoderne Linke eine von deutscher Romantik inspirierte Identitätspolitik, die ihrem politischen Widerpart – dem „Ethnopluralismus“ der Neuen Rechten – in der Ablehnung jenes Universalismus ebenso ähnelt wie in der Idealisierung lokaler Kulturen und ethnisierter Kollektive, aus deren Zwängen ihre vermeintlichen Angehörigen nicht als Individuen auszubrechen haben. So darf heute ein Diktum Carl Schmitts aus den 30er Jahren als verbindendes Credo rechter wie linker Identitätspolitik gelten: „Wer Menschheit sagt, will betrügen.“

In der Konfrontation von Gegenwartsbildern mit historischen Texten des fortschrittsoptimistischen Marxismus des 19. Jahrhunderts und der völkisch-antisemitisch grundierten Fortschrittskritik des frühen 20. Jahrhunderts möchte der Essayfilm „Jahrhundertwende“ noch einmal die Dialektik einer Aufklärung nachvollziehen, die unvollendetes Projekt blieb.

„Antifaschismus“ oder die Dummheit der Spaziergänger

Heute, am 22.10.2016, findet in Kassel ein „Antifaschistischer Stadtspaziergang“ statt. Warum heute? Heute vor 73 Jahren wurde Kassel bombardiert und auch die Antifaschisten meinen zu wissen, womit dieses Bombardement zusammenhängt. Geladen hat die DGB-Jugend zu dieser Veranstaltung. Der Spaziergangsführer ist Dr. Ulrich Schneider. Der gehört der VVN an und schreibt u.a. folgendes: „Geschichte wird dann anschaulich, wenn es gelingt sie zu verorten. Dazu findet ein Stadtrundgang auf den Spuren der Geschichte der Arbeiterbewegung und Antifaschismus durch Kassel statt. Die rassistische Ausgrenzung jüdischer Bürgerinnen und Bürger wird ebenso sichtbar wie das Handeln der Arbeiterparteien gegen den aufkommenden Faschismus.“ Das ist dann auch der Abschnitt, der von der DGB-Jugend zur Bewerbung ihrer Veranstaltung angeführt wird

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Wir haben es hier mit einem anschaulichen Beispiel zu tun, dass eine Bewegung, die sich antifaschistisch nennt, keinen Begriff davon hat, wovon sie spricht. Das fängt mit dem Begriff Faschismus an und hört zwangsläufig mit dem Antisemitismus auf. Der antisemitische Wahn und Vernichtungsantisemitismus wird flugs unter den Begriff Rassismus subsumiert und die Verfolgungs- und Vernichtungspraxis der Nazis folglich mit dem Wort (rassistische) Ausgrenzung um ihren wesentlichen Inhalt gebracht, nämlich die Vernichtung. So bleibt der Antisemitismus als die zentrale Ideologie des Nationalsozialismus unbegriffen und man spricht folglich vom Faschismus.

Das geht weiter damit, dass der Begriff Volksgemeinschaft nicht vorkommt und davon gefaselt wird, dass die Arbeiterparteien gegen den aufkommenden Faschismus gehandelt hätten. Es war die KPD, die als einzige organisiert gegen den Nationalsozialismus kämpfte, die aber vollständig auf verlorenem Posten stand, weil zum einen viele ihrer Anhänger nach 1933 schlicht zur SA überliefen, die meisten ihrer standhafteren Kader von ihren proletarischen Nachbarn und Kollegen verraten wurden, weil die KPD bis 1933 vor allem gegen die Sozialdemokratie agitierte, versuchte der NSDAP, in Sachen Nationalismus den Rang abzulaufen und weil sie keinen kritischen Begriff von der Volksgemeinschaft hatte, in die der Großteil nicht nur ihrer Anhängerschaft schließlich integriert wurde.

Der Stadtspaziergang will den „Folgen der faschistischen Kriegspolitik begegnen.“ Begegnung hört sich immer gut an, ob es schon eine entsprechende Begegnungsstätte gibt, weiß man bis heute noch nicht. Vermutlich soll auf die Rüstungsindustrie hingewiesen werden und, das steht ob des Datums zu vermuten an, auf die Bombardierung Kassels. So muss man nicht auf die Engländer schimpfen, sondern hat in der Rüstungsindustrie den Schuldigen und kann das Bombardement beklagen, dass nur die Unschuldigen getroffen habe, anstatt zu konstatieren, dass damals die Richtigen getroffen wurden. Der Nationalsozialismus wird auf die Frage von Rassismus, Krieg und Frieden reduziert, das Volk exkulpiert und zu Widerstandshelden erschwindelt und ergo zum ersten Opfer der Nazis erklärt.

Es ist nicht schwer zu erraten, dass die gleichen, die jetzt an die Bombardierung Kassels erinnern, sich zwar nicht gegen die Bombardierung Aleppos durch die Russen (und Assads Truppen) wenden, sich demnächst aber gegen Rassismus, Krieg und Besatzung empören, wenn mal wieder von der IDF die Hamas oder die Hisbollah nachhaltig daran gehindert werden soll, ihren Vernichtungsantisemitismus in die Tat umzusetzen. (jd)