In Kassel fand am 27. Januar 2020, wie in den letzten Jahren auch, eine Gedenkveranstaltung der Stadt Kassel statt. Die Stadt Kassel hat in manchen Punkten dazugelernt. Dies fand nicht nur Zustimmung. Ein Vertreter der Partei „Die Linke“ stieß sich daran, dass der Oberbürgermeister Kassels Christian Geselle angesichts des antisemitischen Terroranschlags eines Nazis in Halle die Fahne Israels hisste. Die Fahne der VVN wurde jetzt auf einer kleinen Gedenkveranstaltung präsentiert, zu der die Gruppe „Offenes Antifa Treffen“ und die „VVN Kreisvereinigung Kassel“ lud. An dieser Fahne nahm bisher keiner Anstoß.
Auf dem Veranstaltungsplakat hieß es, den „Schwur von Buchenwald“ zitierend: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“ Liest man den Aufruf, so findet man dort folgende Ausführungen: „Wir führten in vielen Sprachen den gleichen Kampf […] und dieser Kampf ist noch nicht zu Ende. Noch wehen Hitlerfahnen! […]“ Der Schwur sei hier in Gänze dokumentiert.
Heute wehen im Gaza Hakenkreuzfahnen, präsentieren Kämpfer der Hisbollah und der PFLP den Hitlergruß, sind „Mein Kampf“ und die „Protokolle der Weisen von Zion“ Bestseller in den palästinensischen Autonomiegebieten. Geführt wird von dort ein Krieg gegen die Bevölkerung Israels – gegen Juden. Der Kampf zur Vernichtung des Geist des Nazismus – der Antisemitismus – ist noch nicht zu Ende, er wird heute von der IDF geführt.
Auf der Veranstaltung selbst wurde ein Flugblatt der Veranstalter verbreitet. Dort hieß es „Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!“. Einer der Redner war Dr. Ulrich Schneider, Vorsitzender der VVN in Kassel, Autor der Zeitung der DKP „Unsere Zeit“ (UZ)1 und jemand, der als Gast auf Parteitagen eben dieser Partei auch schon mal Grußworte entrichtet.2 Was man von dieser Partei zu halten hat, sollte spätestens seit der detaillierten Untersuchung Jeffrey Herfs über den Krieg der DDR gegen Israel klar sein.3
Selbstverständlich ist mit „Nie wieder Krieg!“ nicht der gegen Israel gemeint, das kann auf jedem von Ulrich Schneider (und der VVN-Kassel) unterzeichneten Ostermarsch-Aufruf nachgelesen werden. Dass dieser Satz der absolute falsche Schluss aus der Erfahrung ist, dass die alle menschlichen Werte negierende deutsche Volksgemeinschaft nur mit Gewalt niederzuwerfen war, bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Erläuterungen und es sei sich daher auf die Bemerkung beschränkt: Dieser Satz ist, angesichts der Tatsache, dass es die bewaffnete Rote Armee war, die Auschwitz befreite, mindestens geschichtsvergessen.
An anderer Stelle des Flugblatts heißt es: „Wenige leisteten Widerstand. Auch ihre Geschichte muss erzählt werden.“ – Als ob dies nicht spätestens seit der Rede Weizsäckers zum 8. Mai 1945 häufig genug passiert. Aber gut, es spricht nichts dagegen sich diesem Thema zu widmen. Als Beispiel des Widerstandes wird im Flugblatt die „Rüstungssabotage der Kommunist*innen in den Kasseler Rüstungsbetrieben“ angeführt. Das ist ein schlechtes Beispiel, wenn es nicht schlicht falsch ist. Der Wissenschaftler Prof. Jörg Kammler resümierte über den Widerstand in Nordhessen: „Von Widerstand wird in den Berichten jener Kommunisten, die in den Kriegsjahren in Kassel lebten, jedoch nicht gesprochen. Der Zusammenhalt unter engen Gesinnungsgenossen war ein eher defensives Schutzbündnis, sowie das Einstehen für schikanierte und misshandelte ausländische Zwangsarbeiter […] In ungleich höherem Maße als bei den deutschen Arbeitskräften kam es unter den in Kassel arbeitenden ausländischen Arbeitern und Kriegsgefangenen zu Akten der Verweigerung und des Widerstandes. […] Verweigerung und Aufbegehren in der Kasseler Arbeiterschaft während des Krieges [war] in erster Linie die Sache der ausländischen Arbeiter.“4
Auf dem Flugblatt wird einen Satz später noch die „Selbstbefreiung des Konzentrationslagers Buchenwald“ angeführt. Der Mythos von der Selbstbefreiung Buchenwalds entstammt der Propaganda der SED und hat wenig mit den historischen Vorgängen der Befreiung Buchenwalds zu tun. Buchenwald wurde von US-Truppen befreit. Die Häftlinge Buchenwalds übernahmen, nachdem der Großteil der SS-Truppen vor den herannahenden US-Truppen Reißaus nahmen und einige Stunden bevor die US-Truppen das Lager erreichten, die Kontrolle über Teile des Lagers und über das Lagertor.5 Aufstände oder bewaffnete Ausbrüche gab es in Sobibor, Treblinka, Mauthausen und in Auschwitz.
Es soll nicht verschwiegen werden, dass an der Veranstaltung einige anwesend und wohl auch Veranstalter waren, die darauf pochten, dass „Nie wieder!“ heißen muss für das Existenzrecht des jüdischen Staates einzutreten, „der fähig ist, sich selbst zu verteidigen.“ Das ist richtig, es bleibt die Frage, warum nicht verhindert wurde, diesen schlechten Text zu schreiben und Dr. Schneider reden zu lassen.
Die Kasseler VVN ist auf Gedenkveranstaltungen zum 27. Januar und 9. November nichts anderes als ein Affront. Mit der Kasseler VVN gemeinsam gegen Antisemitismus einzutreten kann daher nicht richtig sein.
3 „Die überlebenden Kommunisten im Osten Deutschlands hatten nie wirklich das Wesen und die Ursprünge des Judenhasses begriffen. Ihre lange währende Feindseligkeit gegenüber Israel steckte voller Klischees und Stereotypen über die Boshaftigkeit des jüdischen Staates, seine Arglist und sein enormes konspiratives Potenzial – allesamt vertraute antisemitische Motive.“ (S. 483) Herf beschreibt nicht nur die ideologische Feindschaft sondern stellt ausführlich die auch von der DDR massiv betriebene Bewaffnung von Israels Feinden dar, Staaten die Israel liquidieren wollten und arabische Terroristen, denen es oft nur darum ging, Juden zu töten. In: Jeffry Herf, Unerklärte Kriege gegen Israel. Die DDR und die westdeutsche radikale Linke. 1967 – 1989, Göttingen 2019.
4 Jörg Kammler: Widerstand und Verfolgung – illegale Arbeiterbewegung, sozialistische Solidargemeinschaft und das Verhältnis der Arbeiterschaft zum NS-Regime, in: Volksgemeinschaft und Volksfeinde. Kassel 1933 – 1945, Bd. 2, Kassel 1987, S. 352ff
5 Zur „Selbstbefreiung Buchenwalds“ vgl.: Chronologie der Befreiung es KZ Buchenwalds im April 1945.