Nach dem 7. Oktober erklärten die beiden Kirchen Kassels „ihre Verbundenheit mit den jüdischen Geschwistern“. Sie drückten in dem Aufruf ihre „Sorge um die Sicherheit jüdischen Lebens in Kassel“ aus und erklärten, dass sie am 13. Oktober ihren „’Wächterdienst‘ vor der Kasseler Synagoge wieder auf[genommen]“ haben. Sie griffen dabei auf eine Initiative zurück, die sie 2019, nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle, ins Leben riefen.1 Dieser Initiative schlossen sich weitere Gruppen an, so u.a. die Omas gegen Rechts Nordhessen, die Deutsch Israelische Gesellschaft Kassel, das Europa-Forum und andere.
Die Initiative bezieht sich dabei auf den Vers 6 in Jesaja 62. Dort heißt es: „Auf deine Mauern, Jerusalem, stellte ich Wächter. / Weder bei Tag noch bei Nacht dürfen sie schweigen. Ihr, die ihr den Herrn (an Zion) erinnern sollt, / gönnt euch keine Ruhe!“ Diesen Zeilen folgt mit unmittelbaren Bezug auf die vorhergehenden diese Sentenz: „Lasst auch ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufbaut, bis er es auf der ganzen Erde berühmt macht.“
Jesaja: Um Jerusalem willen nicht still sein, bis das Recht in ihm aufstrahlt wie ein helles Licht.
Die Kapitel 56 – 66 des Buchs Jesaja sind mutmaßlich in der Zeit verfasst worden, als das Volk Israel aus dem babylonischen Exil nach Judäa zurückkehrte, Jerusalem und den dort zerstörten Tempel wieder aufbaute.
Das Kapitel 62 des Buchs Jesaja beginnt mit folgendem Vers: „Um Zions willen kann ich nicht schweigen, / um Jerusalem willen nicht still sein, bis das Recht in ihm aufstrahlt wie ein helles Licht / und sein Heil aufleuchtet wie eine brennende Fackel.“ Im 12. Vers heißt es dann: „Dann nennt man sie Das heilige Volk, Die erlösten des Herrn. Und dich nennt man Die begehrte die nicht mehr verlassene Stadt.“
Unschwer ist zu erkennen, dass im Buch Jesaja Kapitel 62 Eretz Israel, die ewige Stadt Jerusalem und der von den Babyloniern um 586 v. Chr. zerstörte wiedererrichtete Tempel die Hoffnung und die Heilserwartung des aus der Diaspora wiedergekehrten jüdischen Volks darstellen. Die Wächter sind dabei keine Figuren, die die Juden oder Jerusalem unter ihren Schutz stellen, sondern sie stehen entweder für diejenigen, die die Selbstermächtigung des jüdischen Volkes in Form eines antiken Königreiches als die Heilserwartung und als Gottes Verheißung verkünden oder sie verkörpern im metaphorischen Sinne das vom Propheten verkündete Wort Gottes. Die Wächter stehen somit vor dem Hintergrund der bei Entstehung dieses Textes bereits wieder errichteten antiken jüdischen Staatlichkeit als Verkünder des Zusammenhangs von einem existierenden jüdischen Gemeinwesen und der Befreiung aus Fremdherrschaft, Versklavung und Verschleppung.
Nach dem letzten Aufstand der Juden gegen die römische Herrschaft wurde die überlebende jüdische Bevölkerung versklavt und aus Jerusalem und Judäa vertrieben. Der zweite Tempel wurde zerstört, Jerusalem in Aelia Capitolina und Judäa in Palästina umbenannt um jedes Andenken an Juden auszumerzen. Für die überlebenden, in aller Welt verstreuten Juden, auch für die wenigen in Palästina verbliebenen oder in der Spätantike zurückgekehrten Juden, nahm Jerusalem, der zerstörte Tempel und Eretz Israel einen zentralen, aber fortan himmlischen Stellenwert in der jüdischen Religion ein. Erst der Zionismus erdete die religiöse Verheißung in eine praktische Idee, um für die verfolgten, geknechteten und in aller Welt verstreut lebenden Juden erneut eine sichere Heimstatt zu errichten. Es waren die Zionisten, die als Propagandisten des neu zu errichtenden jüdischen Staates die Rolle der in Jesaja beschriebenen Wächter in einer säkularisierten Form einnahmen.
Nähme man den Begriff von den Wächtern wörtlich – wofür, bezöge man sich auf die biblische Bedeutung, nichts spricht – müsste man seit der Wiedererrichtung eines jüdischen Gemeinwesens, des Jishuv in Palästina, in den zwanziger Jahren die Hagana und seit Gründung des israelischen Staates 1948 die Israel Defence Forces (IDF), den Mossad und den Shin Bet als Wächter des jüdischen Volkes sehen. Es sind die israelischen Sicherheits- und Streitkräfte, die genau das gewähren, was die Initiatoren des Wächterdienstes meinen leisten zu können, nämlich: „ihre Sicherheit [die der Juden] und ihr Recht auf freie Religionsausübung [zu] unterstützen.“ Betrachtet man die Massenaufmärsche der Jubel- und Problempalästinenser in den europäischen Staaten und die tatsächlichen Hegemonialverhältnisse auf Kassels Straßen zwischen Königsplatz, Holländischer Straße und Wesertor sind es nicht die Organisationen und Initiativen der Zivilbevölkerung, die die Sicherheit der Juden gewähren oder dazu beitragen, sondern es ist die Polizei.
Würde man sich auf den Begriff vom Wächter im metaphorischen Sinne beziehen – für das bei biblischen Begriffen alles spricht – so wären am ehesten die historischen Persönlichkeiten wie Moses Hess, Theodor Herzl, Ben Gurion und Golda Meir diejenigen, die die in Jesaja genannten Wächter in moderner und säkularer Form verkörpern. Wenn man also von einem Wächterdienst sprechen möchte, sollte man die Symbole, die die Botschaft der biblischen Wächter wie die ihrer modernen säkularen Nachfolger verkörpern, in den Vordergrund stellen. Das sind Jerusalem, die Westmauer („Klagemauer“), die Knesset und die davorstehende Menora, das wäre die israelische Flagge, der Magen David.
Pudelmützen und wider die Fahne
Doch weil es den beiden Kirchen offenbar weder darum geht, sich in einem wörtlichen noch in einem metaphorischen Sinne auf die Wächter Jesajas zu beziehen, spielt auch die israelische Fahne bei den Wächterdiensten keine Rolle und wird von den Beteiligten Initiatoren entweder zum nicht erwünschten Accessoire. Der an den Wächterdiensten ebenfalls beteiligte Arbeiter*innenliederchor dekretierte am 26.11.2023, dass keine Fahnen mitgebracht werden sollen und die Organisation Offen für Vielfalt – Geschlossen gegen Ausgrenzung erklärte Fahnen gar zum Tabu. Von Israel war in den Aufrufen zu den Wächterdiensten (abgesehen vom Aufruf der DIG Kassel) entweder gar nicht oder nur am Rande die Rede. Vor dem Hintergrund des 7. Oktober, an dem Israel von Einsatzkommandos der Hamas überfallen wurde, diese Jagd auf Juden machten und das schlimmste Pogrom seit 1945 anrichteten, ist diese Haltung skandalös.
Die Gruppe Omas gegen Rechts Nordhessen erklärten am 12. Oktober: „Morgen stehen wir um die Synagoge […] stumm […] ohne Flaggen und Schilder. […] Wir bilden einen Ring um Jüdische Mitbürger und ihre Gebäude.“ Einen Tag später: „Am von der Hamas ausgerufenen ‚Tag des Zorns‘ standen wir […] mit vielen Anderen um die Synagoge […] Wir sind solidarisch mit den Juden in unserem [hervorgehoben v. V.] Land!“ Offenbar sind eben nicht die Juden im jüdischen Staat gemeint, die sich kürzlich erfrechten eine freilich auch in Israel umstrittene Regierung zu wählen, die sich nicht als Schutzbefohlene des deutschen Außenministeriums betrachten und die sich schon gar nicht als Befehlsempfänger den Vorstellungen europäischer Zivilgesellschaften unterwerfen.
Sicher: Den Kasseler Juden „Beistand und ein wirkliches Zusammenstehen“ in einer Situation zu zeigen, „in der jüdische Menschen unter Antisemitismus, Drohungen und Hass leiden“ ist ohne Zweifel eine noble, eine wichtige und von vielen auch ernst gemeinte Geste. Auch uns als Bündnis gegen Antisemitismus Kassel war es wichtig unsere Solidarität mit den Juden und eben auch Flagge zu zeigen. Wir waren bei den meisten der Veranstaltungen an der Synagoge zugegen.
Doch die von den Organisatoren zugedachte Rolle der Juden als „jüdischen Geschwister“, denen Schutz gebührt und deren Selbstermächtigung entweder vornehm verschwiegen wird oder zum unerwünschten Sachverhalt wenn nicht gar zum Tabu erklärt wird, erinnert an den Status der „Schutzjuden“ im Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Sie erinnert auch und außerdem an die Rolle der Juden als Dhimmis in der arabisch-muslimischen Welt. Als „Schutzjuden“ oder Dhimmis hing das Wohl und Wehe der Juden vom Gutdünken der Herrschenden ab, die die immer in prekären Verhältnissen lebenden Juden unter ihren herrschaftlichen Schutz stellten oder eben nicht. Ein Status, der für die jeweiligen Juden von heute auf morgen Verfolgung und Pogrom bedeuten konnte, zumindest jedoch die Verschlechterung der Situation.
Dass die Veranstalter kein Verständnis von Antisemitismus, vom Antizionismus und Israelhass haben, zeigte sich auch darin, dass nicht etwa Antisemiten und Israelhasser klar benannt wurden, sondern immer wieder betont wurde, dass es gelte, die Religionsausübung zu schützen und eben nicht Juden vor antisemitischen Angriffen. Das Ganze gipfelte darin, dass am 10. November der katholische Pfarrer, Harald Fischer, den Berufspalästinenser Ahmed Tubail zum Wächterdienst mitbrachte, ohne dass der des Platzes verwiesen wurde. Diese Zumutung von Pfarrer Fischer wurde von der lokalen Presse dann zur verpassten Chance eines Dialoges erklärt. Tubail habe, so Matthias Lohr in der HNA, Bereitschaft zum Dialog bewiesen.2 Die Omas gegen Rechts Nordhessen sekundierten dieser kruden Interpretation. Sie zeigten sich begeistert von Fischers Aktion und erklärten: „Wir finden die Initiative von Pfr. Fischer und Ahmed Tubail großartig und danken ihnen dafür. […] Die Stadtgesellschaft in Kassel braucht solche Versuche der Verständigung! ‚Die Würde (der jüdischen wie der palästinensischen) Menschen ist unantastbar‘!“
Es handelte sich um eben jenen Tubail, der erst ein paar Tage zuvor in der Lokalpresse erklären durfte, die Hamas solle man genauso wenig wie den ANC als Terrororganisation ansehen und der ein gutes Jahr zuvor in der gleichen Zeitung die mittlerweile strafbewehrte Parole „From the River to the Sea …“ zur Freiheitsparole erklärte. Drei Wochen später, am 1. Dezember brachte der Christliche Islamische Arbeitskreis Wesertor die Islamisten von der Al Huda Moschee zum Wächterdienst mit und am 15. Oktober war dann auch der Kasseler DITIB-Mann Mahmut Eryilmaz zugegen.3
Der jüdische Staat ist Ausdruck des jüdischen Nationalbewusstseins, der nationalen Selbstbestimmung und der jüdische Staat ist gleichzeitig die „Wiederaneignung der Kraft und Gewalt durch die Juden“ (Claude Lanzmann). Imre Kertez hat diesen Sachverhalt treffend auf den Punkt gebracht: „Als ich im Fernsehen zum ersten Mal die auf Ramallah zurollenden israelischen Panzer erblickte, durchfuhr mich unwillkürlich und unabweisbar der Gedanke: Mein Gott, wie gut, dass ich den Judenstern auf israelischen Panzern sehe und nicht, wie 1944, auf meiner Brust.“
Verweise
1 Schutzschild gegen Antisemitismus, in Jüdische Allgemeine, 12.12.2019.
2 Wächterdienst wegen Judenhass in Kassel: Streit um Besuch an Synagoge, HNA, 14.11.2023.
3 Der Führer der DITIB Ali Erbas ist ein bekennender Israelhasser und Antisemit, genauso so wie der Präsident der Türkei Recep Erdogan, dem die Diyanet unterstellt ist. Eryilmaz ist Sprecher der muslimischen Gemeinden im Kasseler Rat der Religionen. In unserem Text Im Tal der Ahnungslosen. St. Eryilmaz und der Rat der Religionen haben wir uns diese Person näher angeschaut.
Literatur
Melanie Kloke, Historisch-Kritische Exegese zu Jesaja 62, 1-12, 2005.
Imre Kertez, Jerusalem, Jerusalem, Die Zeit 25.04.2002.
Gil Yaron, Irdische Geschichte einer heiligen Stadt, APUZ, 06.04.2021